Die Jakobswege verbinden Europa
Referat von Prof. Dr. Petra Kurten (30. Sep. / 1. Okt. 2009 in Neustift/Brixen)
1. Der Jakobsweg-Symbol europäischer Identität
2. Geschichte einer politisch-religiösen Leitidee
3. Wie Jakobus nach Europa kam:
Die Entstehung und Funktion der Jakobuslegenden
4. Das positive Erbe: eine „Strasse, die zusammenführt“
5. “Es gibt nichts Mächtigeres auf der Welt als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“(Victor
Hugo). Jakobswege heute
5.1 Wir brauchen Legenden, Riten und Symbole
5.2 Unterwegs in der Natur: aktive Wellness für Leib und Seele
5.3 Wir alle sind Pilger: Erfahrung von Gemeinschaft ohne Masken und Unterschiede
5.4 Gemeinsame Werterfahrungen
Was ist der Jakobsweg? Vieles zugleich:
Konkreter Weg, Heerstraße, Handelsroute, historischer und heute touristisch bedeutender Pilgerweg, Zeugnis und Museum europäischer Geschichte und Kultur, aber auch Mythos und Identität stiftende religiös–politische Idee, Parabel des persönlichen Lebensweges (Hape Kerkeling), meditative Methode der Selbstfindung, mythischer Sternenweg und Weg in der Natur.
Er integriert in sich Geschichte, Kultur, Religion und Natur.
Johann Wolfgang von Goethe, einer Symbolfigur europäischer Kultur, wird der viel zitierte Satz in den Mund gelegt: „Europa ist auf der Pilgerschaft geboren und das Christentum ist seine Muttersprache“.
Vor dem Hintergrund, dass man sich auf dem Jakobsweg zurück zu den historischen und geistigen Ursprüngen Europas begibt und der Austausch der Kulturen und der Wissenstransfer auf diesem Weg heute wie früher funktioniert, hat der Europarat dem Jakobsweg einen „höchst symbolischen Wert für die Entstehung“ und Einung Europas durch die Europäische Union zugesprochen. Es ging ihm 1987 in seiner Deklaration des Jakobsweges zur ersten europäischen Kulturstraße um die Stärkung einer gemeinsamen europäischen Identität. Eine auch nach mehr als 20 Jahren noch aktuelle Aufgabe.
Identität beruht zuerst auf dem Hineingeborenwerden in eine Familie, ein Volk, eine Region, dann aber auch auf einer Kultur, die durch ihre geistigen und emotionalen Erfahrungen, zu denen auch die religiösen und spirituellen gehören, eine Gruppe prägt. Die Akzeptanz gemeinsamer Werte schafft Wertgemeinschaften.
In der Deklaration des Europarates heißt es: „kulturelle Identität wird und wurde möglich durch die Existenz eines europäischen Raumes mit gemeinsamer Geschichte und mit einem Netz von Verbindungswegen, die Entfernungen, Grenzen und Sprachen überwinden konnten.“
Der Europarat regte deshalb die Wiederbelebung des Jahrhunderte alten und teilweise schon vergessenen europaweiten Wegenetzes des Jakobsweges an und empfahl „den Behörden und den Bürgerinnen und Bürgern, die Jakobswege in ihren Regionen zu erforschen, zu pflegen und zu kennzeichnen, damit wie im Mittelalter der Transfer von Ideen, Kunst und Kultur zwischen den Regionen und Nationen der europäischen Grenzen gefördert wird und die Sprachbarrieren überwunden werden.“
Viele von Ihnen wirken dabei mit, dass der Jakobsweg in fast jedem europäischen Land entsprechend der mittelalterlichen Weisheit: „vor deiner Haustür“ begonnen werden kann. Die Erforschung von Pilgerspuren in der eigenen Heimat wie Jakobspatrozinien, Bruderschaften, Hospize und Gasthäuser, alte Handels- und Heerstraßen und Legenden, aber auch eine landschaftlich möglichst reizvolle Wegführung abseits der großen Autostraßen bestimmen die Routenwahl und entsprechen den Motiven und Erwartungen der modernen Pilgerbewegung.
Der Europarat bezieht sich auch ausdrücklich auf die spirituelle Dimension gemeinsamer Erfahrungen, Überzeugungen und Werte, wenn es heißt: „Möge der Glaube, der die Pilger im Laufe der Geschichte bewegte und der sie im gleichen Sinn zusammenführte - über alle Verschiedenheiten und nationalen Interessen - auch uns in dieser Zeit antreiben, besonders auch die Jugendlichen, weiter diese Caminos zurückzulegen, um so eine Gesellschaft zu bauen, die gegründet ist auf Toleranz, Ehrfurcht vor dem Mitmenschen, auf Freiheit und Gemeinschaftsbewusstsein“.
Die Pilgerschaft zu einem heiligen Ort der Begegnung mit dem Göttlichen wurzelt in allen Kulturen und Religionen in der Sehnsucht des Menschen nach Heil- und Ganzwerden und dem Bedürfnis, das Geheimnis des Lebens, seinen Sinn und sein Ziel zu verstehen und eine ganzheitliche Welt- und Lebensdeutung zu finden.
Ihre Identität stiftende und gemeinschaftsbildende Kraft kann von religiösen und weltlichen Institutionen bewusst eingesetzt, für Nationalismus, Intoleranz und Krieg missbraucht oder aber Wert und Lebens fördernd integriert werden.
Die Idee: “Ein Gott, ein Glaube, ein Heiligtum und ein Herrscher“ kann Völker verbinden, Identität und Frieden stiften. Diese Leitvorstellung zieht sich durch die Geschichte vom biblischen Gottesvolk Israel, zu dessen Heiligtum nach der Vision Jesajas friedlich die Völker ziehen und ihre Waffen zu Pflugscharen umschmieden, über das römische Weltreich seit Konstantin, das christlich abendländische Reich Karls des Großen und seiner Nachfolger bis zur modernen, demokratischen und weithin säkularisierten Europäischen Union, die hier auf der Suche nach europäischer Identität durch den Jakobsweg anknüpft.
Das junge, dynamische Christentum, das sich selbst als Menschen des „neuen Weges“ verstand (Apg 9,2 ), wird von Konstantin durch einen religiösen Traum, wie die Legende später erzählt, als Mittel zur Einigung des Vielvölkerstaates Rom, dessen Götterpantheon an Glaubwürdigkeit verloren hat, entdeckt und zum Erhalt der Pax Romana eingesetzt. Das römische Reich hat sich unterstützt durch den Bau von Strassen und Kastellen durch militärische Eroberung über den gesamten Westen bis zur Provinz Hispania ausgebreitet und zugleich missioniert.
Nach dem Zerfall des römischen Reiches entbrennt ein Machtkampf zwischen Westgoten und den Mauren im Westen und später den um die Vorherrschaft kämpfenden Franken, wobei Karl der Große die römische Idee der Einigung der verschiedenen Stämme in einem Reich durch die Kraft des einen christlichen Glaubens aufnimmt.
Die Entstehung und Geschichte des Jakobsweges ist geprägt von kluger weltlicher und kirchlicher Einigungs- und Machtpolitik, die letztlich zur Entstehung einer reichen spezifisch abendländischen-christlichen Kultur in Europa führte, ein zwar belastetes politisch-kirchliches, aber zugleich zukunftsträchtiges spirituelles Erbe. Der Weg nach Santiago wurde durch die Frömmigkeit vieler Pilger und ihre Suche nach einem durch Jakobus helfenden gnädigen Gott spirituell gefüllt. Jakobus ist der Segen vermittelnde Wegbegleiter und zeitweilig der volkstümlichste Schutzheilige jeder Mobilität.
Beide Aspekte, der politische und der spirituelle, werden durch verschiedene Legenden gestützt, die immer neu den Bedürfnissen der jeweiligen Zeit angepasst werden.
Legenden wurzeln in gedeuteter Geschichte, sie enthalten aber auch das Handeln prägende Leitvorstellungen und Identifikationsangebote. Der Angst vor der Eroberung durch Muslime wurde seit 711 im noch christlichen Königreich Asturien eine für alle gläubigen Christen bindende Vorstellung entgegen gestellt, die der Wahrung christliche Identität diente: die Legende, Jakobus habe Spanien missioniert und seine Verehrung als Schutzheiliger. Damit beginnt ein Identifikationsprozess, dessen nächster Schritt Anfang des 9.Jh. die Legende von der Auffindung der Gebeine des Apostels auf einem christlichen Friedhof aus römischer Zeit ist. Ähnlich wie in anderen Auffindungslegenden in ganz Europa sollen Lichterscheinungen einem Eremiten oder Hirten den Weg dorthin gewiesen haben. Der Ortsname wird deshalb auch vom lateinischen compostum- also kleiner Friedhof- abgeleitet (Unamuno, Miguel de, zit. n.Yves Bottineau, Der Weg, 36). Die wundersamen Lichter ermöglichen aber auch die spirituell-symbolische Deutung campus stellae-Feld des Sterns.
Eine Legende aus dem 11.Jahrhundert, der Zeit der Reconquista, der sogenannten Rückeroberung, erzählt, dass ein Bischof das Haupt des Apostels von Jerusalem nach Santiago gebracht habe. Jakobus wird zum Schutzherrn der Eroberung der Städte entlang der Pilgerstrassen. An der Wende zum 12. Jahrhunderts ist mit dem Bau der 4. Kirche und heutigen romanischen Kathedrale(1077) der Höhepunkt der mittelalterlichen Pilgerbewegung erreicht. Der Islam wird als Bedrohung für das christliche Abendland empfunden. Frankreich, die Äbte des Verbands des bedeutenden französischen Reformklosters Cluny und der Papst rufen christliche Ritter zu einer neuen Form der Pilgerschaft, zu einem heiligen Krieg bzw. einem Kreuzzug gegen den Islam in Spanien auf. Die Jakobuslegende erfährt folglich eine Erweiterung. Dem Bild des im heiligen Krieg voran reitenden Propheten Mohammed wird Jakobus als Matamoros (Maurentöter) entgegengestellt. Bei der sagenhaften Schlacht von Clavijo soll er hoch zu Ross in ritterlicher Rüstung erschienen und die christlichen Ritter zum Sieg geführt haben. Noch bei der späteren spanischen Eroberung Mexikos durch Ferdinand Cortez (1519-1521) und der Eroberung des Inkareiches durch Pizarro lautet der Schlachtruf: „Santiago Hilf“. In der Kathedrale von Compostella finden sich auch Schätze von dort und viele Darstellungen des Matamoros stammen aus dieser Zeit.
Zur Rechtfertigung des fränkischen Anspruchs auf Spanien und des Kreuzzuges wird eine angeblich von Bischof Turpin im 8.Jh. verfasste Erzählung von einer Vision Karls des Großen geschaffen und in der Historia Karoli Magni et Rotholandi verbreitet.
Jakobus fordert Karl auf, als erster Pilger und kriegerischer Missionar nach Santiago zu pilgern, die Muslime zu bekämpfen und den Sternenweg zu befreien. Außerdem finden sich noch zwei verschiedene Versionen der Legende von der Auffindung des Apostelgrabes. All dies wird später als 4. Buch in den Pilgerführer „Liber Sancti Jacobi“(Codex Calixtini) integriert und dient so zugleich der Werbung für den Jakobskult und die Pilgerreise nach Compostela. Die europäische Identifikationsfigur Karl der Große, die Reconquista und Jakobus als Symbolfigur eines christlichen Europas werden massenwirksam in einer der einflussreichsten Erzählungen des Mittelalters miteinander verbunden
Die Legende und Verehrung des Jakobus von Compostela war also „von seiner Ursprungsidee her ein Bollwerk gegen die Mauren und ein Motor der Reconquista“ (Michael Rosenberger, Wege, 131).
Im letzten Jahrhundert erinnerte sich der Diktator Franco an diese Rolle des Jakobus und setzte sowohl den nationalen Feiertag am 25. Juli als auch die Abgabenpflicht an die Apostelkirche wieder ein. In der "ofrenda de la nación" verknüpfte er bewusst die Rolle des Heiligen bei der Befreiung Spaniens von den Mauren mit der Befreiung der Nation aus den Händen der Roten und dem Ende der Republik.
Das kann heute nicht mehr Ziel der Idee und Praxis des Jakobsweges sein, sondern ist Teil unserer Geschichte als Europäer und Christen, die nicht verdrängt werden darf, sondern auch durch die Jakobswege positiv bewältigt werden muss. Auf dem Pilgerweg geht es nicht nur um Aufarbeitung der persönlichen Biografie, sondern auch der gemeinsamen Geschichte.Es ist wichtig, in den Jakobswegeprojekten Hilfen und Anregungen dazu zu bedenken.
Der Jakobsweg war die Lebensader, die immer schon kulturellen und wirtschaftlichen Austausch in Europa gefördert hat. Der Weg hat das Zusammentreffen von Menschen unterschiedlichster Herkunft ermöglicht und so eine Kultur, die auf dem freien Austausch von Ideen und der Begegnung zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen und künstlerischen Strömungen basiert, in Europa wachsen lassen. Die Zusammenarbeit der spanischen Königreiche und der cluniazensischen Klöster förderte durch den Ausbau der Infrastruktur (Kirchen, Klöster, Hospize, neue Orden und Bruderschaften, Burgen, Brücken, neue Ortschaften) und die Instandsetzung des Straßennetzes sowohl die Pilgerfahrten als auch Austausch und Handel. Viele, die als Pilger in ein neues Leben aufgebrochen waren, siedelten sich als Händler oder Handwerker wegen der Steuererleichterungen unterwegs an (Villafrancas), brachten Neues und ermöglichten so die Entwicklung dieser Gebiete. Mit dem Pilgerstrom bildete sich ein neuer Wirtschafts- und Tourismuszweig heraus.
Kunstgeschichtliche Zeugen sind die romanischen Pilger- und Reliquiarkirchen, die mit ihrem Chorrundgang und zahlreichen Apsiskapellen den Pilgerströmen Bewegungsraum eröffneten, die gotischen Kirchen Spaniens und Frankreichs, die Verbreitung kunsthandwerklicher Techniken entlang der Jakobsrouten. (vgl. Yves Bottineau,Der Weg, 136-167) und epischer Dichtung. Die Reiseberichte mittelalterlicher Pilger bezeugen auch deren großes Interesse an der Begegnung mit Menschen sowie mit Recht, Kultur, Brauchtum und Handel fremder Länder (Ursula Ganz-Blättler, Andacht und Abenteuer, 160-166).
Obwohl Christen und Mauren einander machtpolitisch erbittert bekämpften, gab es doch besonders im 12. und 13. Jahrhundert zugleich einen intellektuellen und kulturellen Austausch unter Wissenschaftlern und Gelehrten mit einer intensiven Übersetzungs– und Rezeptionstätigkeit z. B. von Werken des Aristoteles, Avicennas sowie die Einführung der indisch-arabischen Zahlen und der Null. Im Auftrag des Abtes von Cluny erfolgte sogar die Übersetzung des Koran. So wurde ein europäischer Wissenstransfer für die folgenden Zeiten ermöglicht.
Sprachbarrieren werden damals wie heute mit den alle Menschen verbindenden emotionalen Ausdrucksformen Lied und Symbol überwunden. Im Pilgermuseum in Santiago heißt es: “Die Pilgerfahrten waren eine unerschöpfliche Quelle musikalischer Inspiration und hatten grundsätzlichen Einfluss auf die Entwicklung des religiösen Gesangs, der spontan entstand“ (zit. n. Andreas Drouve, Geheimnis und Mythos Jakobsweg, 11).
Seit dem 16.Jh. jedoch wird das Pilgern in Europa zunehmend behindert durch Intoleranz (spanische Inquisition, Konfessionsstreitigkeiten),politische Konflikte, Nationalismus, Passzwang, Reiseverbote und eine infolge davon eine zerstörte Infrastruktur. Diese äußeren Hindernisse sind in der EU überwunden. Die neue europäische Pilgerbewegung kann zur spirituellen Überwindung innerer Schranken beitragen, denn Pilger sind in vielerlei Hinsicht „Grenzgänger“.
Was macht das Pilgern heute so attraktiv?
Was sollte gefördert werden, damit -salopp gesagt- „wo Pilgern drauf steht, auch Pilgern drin ist.“?
Rituale sind zeremonielle Handlungen, die in einem religiösen oder kulturellen Kontext eingebettet sind und Krisen und Übergänge gestalten helfen. Wiederholung, Tradition und Gemeinsamkeit kennzeichnen sie.
Sie haben eine spirituelle, miteinander und mit dem göttlichen Urgrund verbindende Kraft. Sie stärken das Urvertrauen zum Leben und sind so die Basis für Wagnis und Abenteuer, den Aufbruch ins Fremde und Unbekannte. Ohne sie würde dem Jakobswegpilger Wesentliches fehlen.
Den großen Ritualen des Jakobsweges: das symbolische Niederlegen einer Last am Cruz de Ferro, das Nachgehen des Labyrinths in Chartres, das Anzünden von Kerzen im Dunkeln, das Berühren der Wurzel Jesse im Portico de la Gloria, das Umarmen der Statue des Apostels, das Verbrennen der alten Kleider am Kap Finisterre können Einladungen zu Ritualen an besonderen Kraftorten des europäischen Jakobsweges entsprechen.
Gemeinsames, Identität stiftendes Wegzeichen und Erkennungssymbol ist heute wie damals die vieira, die Jakobsmuschel, ein uraltes Zeichen der Liebe und des Lebens. Sie wird mit ihren in der Mitte zusammenlaufenden Rillen auch als Bild der verschiedenen in Santiago zusammentreffenden Wege gedeutet. In der Legende von der Ankunft des Leichnams des Jakobus in einem steinernen Schiff (Sarg) wird erzählt, dass ein Ritter bei der Bergung zu ertrinken droht, aber beide mit Muscheln bedeckt und gerettet werden. In dieser Geschichte wird die Muschel als Zeichen des Schutzes des Heiligen gedeutet. (vgl.Monika Hauf, Der Jakobsweg, 152) und sie verbindet mit ihm und untereinander. Das gemeinsame Logo und Wegzeichen des gelben Muschelsterns auf blauem Grund verbindet die Symbole der Jakobslegenden mit der Europafahne. Moderne Legendenbildung deutet sie christlich als Symbol der 12 Apostel, zu denen ja auch Jakobus gehört, auf dem Himmelsschutzmantel der Frau umkränzt von 12 Sternen als Bild der erlösten Menschheit (Offb.12,1).
Jakobus, der bewährte Mittler göttlichen Schutzes begegnet am Weg in vielfältiger Gestalt und geht als Urbild des Pilgers und des Zieles mit.
Die Legenden am Weg
Damals: Mit zahlreichen Legenden über die Wundertaten des Heiligen Jakobus wurde der Status und Wert des Pilgerweges und seiner Stationen gesteigert: “Jakobus hat geholfen!“ Sie verstärkten das religiöse Erleben und sorgten für Gesprächsstoff, mittelalterliche Öffentlichkeitsarbeit.
Heute: Bringen die Legenden die stummen Spuren der mittelalterlichen Pilger zum Sprechen. Sie bringen uns Kirchen und Sehenswürdigkeiten nahe. Sie rühren uns auf einer archetypisch-emotionalen Ebene an. Es geht dem Pilger nicht um die Historizität der Gebeine von Jakobus, sondern Reliquien sind Symbol der hautnahen Begegnung mit dem Heiligen, Heilenden. Geschichten und Legenden geben Orten und Wegen ihre geheimnisvolle Bedeutsamkeit, ihre Weihe“ (Alfons Brüning, Von heiligen Orten).“ Ohne die Kenntnis der legendären Stoffe, ohne die Hintergründe der geheimnisumwitterten Stellen bleibt das Erleben des Jakobswegs vordergründig“, meint auch Andreas Drouve (Geheimnis und Mythos Jakobsweg, 8).
In Legenden begegnen Leitfiguren, Erlebnisse und Emotionen ganz konzentriert und können nachempfunden werden. Es sind Urerfahrungen des Menschseins, die uns miteinander verbinden, “Gerinnungspunkte kollektiver Identität“ (Paul Nora zit. nach Alfons Brüning, Von heiligen Orten ). Sie ermöglichen, die eigenen Erfahrungen, Gefühle und Hoffnungen mit den Bildern der Geschichten in Beziehung zu bringen.
Manche Pilger beziehen sich auch auf den Jakobsweg als Sternenweg und keltischen Initiationsweg. Dahinter steckt der menschliche Archetyp des Pilgerns als Heilige Reise, in der es um Bewährung und Wandlung in einer fremden Welt geht, von der Legenden, Mythen und Märchen in Form von Seelenbildern erzählen.
Es entstehen auch ständig neue Jakobsweggeschichten der Erfahrung von Krisen- und Trauerbewältigung, von Sinn-, Selbst- und Entscheidungsfindung, die sich als Bücher bestens verkaufen, sich im Netz oder mündlich verbreiten und bezeugen: „der Weg hat geholfen!“
Der Pilger vertraut darauf, dass an den alten Legenden und den neuen Erfahrungsberichten wie denen von Coelho, Shirley MacLaine und Harpe Kerkeling etwas dran ist. Er geht den Weg und setzt sich ihm aus, ist offen für das, was ihm entgegenkommt. In fast allen Pilgerforen der neu entstandenen europäischen pilgercommunity ist die Rede, von „der Kraft, die der Weg schenkt“. Der Pilger überlässt sich einem Ritus, dessen entlastende Wirksamkeit darauf beruht, dass er alt bewährt und vorgegeben ist. Der Mensch macht dabei eine urmenschliche und zugleich religiös –spirituelle Erfahrung. Er erfährt sich als im Pilgerstand, als einer, der noch nicht bei sich zu Hause angekommen ist, sondern sich auf dem Weg der Wandlung begibt, noch in Entwicklung ist und sein darf und dabei menschliche und göttliche Hilfe erfährt. So weckt jedes Ankommen aufs Neue den Wunsch, sich wieder auf den Weg zu machen
Viele Pilger suchen die Unmittelbarkeit des Naturerlebnisses, die Landschaft als Seelenspiegel und Ort der Erfahrung des Göttlichen, die Selbsterfahrung im Gehen. Wahrnehmung des eigenen Leibes und der Natur mit allen Sinnen und Besinnung hängen zusammen. Sich lebendig Spüren in der meditativen Bewegung, verbunden mit allen Geschöpfen, den Elementen und dem Wetter ausgesetzt wird zum Erlebnis. ‚Erleben’ bedeutet: sich bereichern lassen – nicht dadurch, dass ich etwas in Besitz nehme, dass ich etwas technisch beherrsche und meinen Gesetzen unterwerfe, sondern dadurch, dass ich mich selbst davon ergreifen lasse und dadurch beschenkt werde. Ich staune, gewinne Freude am Leben, empfinde Dankbarkeit angesichts eines Sonnaufgangs, des sich lichtenden Nebels, der Sonne nach dem Regen. Ich habe das Gefühl, im Gehen meinen Rhythmus zu finden, in Harmonie und eins mit mir, der Natur und dem Göttlichen zu sein. Gott ist zwar nicht unmittelbar erfahrbar, aber in geschenkten Augenblicken kann die Schöpfung durchsichtig auf den Schöpfer hin werden, können Pilger sie als Leib des verborgenen Schöpfergottes erleben und berühren.
Das ist aktive Wellness für Leib und Seele.
Das lateinische Wort peregrinus heißt wörtlich „ der über fremde Äcker zieht“.
In die Fremde zu gehen, aufzubrechen birgt die Chance, ein anderer zu sein, nicht mehr festgelegt zu sein. Max Frisch meint, wir reisen, “damit wir Menschen begegnen, die nicht meinen, dass sie uns kennen“, damit wir erfahren, was im Leben möglich ist. (Tagebuch, 36)
In der Fremde, dem Weg, dem Wetter und sich selbst ausgeliefert, gezeichnet von den gleichen Strapazen, in dem Bemühen, die eigenen Grenzen auszuweiten, angewiesen und dankbar für jede Hilfe und kleine Freundlichkeit fallen die Masken von Status und Rolle, wird der Pilger bereit, auf Fremde zuzugehen, zu geben und zu teilen.
Wir sind alle nur Menschen, Pilger. Nationalität, unterschiedliche Motive, Alter oder Beruf spielen keine Rolle. „Die Pilgerfahrt führt Menschen zusammen. Der gemeinsame Weg, dasselbe Ziel, die gleiche Gesinnung verbindet“ (Alfred Löw, Unterwegs nach Santiago, 74). Der Austausch von Erfahrungen, das solidarische Teilen miteinander und die Kommunikation in den Herbergen, Kirchen und Cafes ist ein Bedürfnis. Man trifft sich stets wieder.
Durch die noch nicht so gut entwickelte Infrastruktur, die fehlenden Pilgertreffpunkte auf den neu eröffneten Jakobswegen kommen solche Begegnungen weniger zustande und werden vermisst. Wichtig wäre die Stärkung attraktiver und traditioneller Heiliger Orte und Herbergen als Jakobspilgertreffpunkte. Hilfreich ist deshalb umso mehr das Angebot begleiteter Pilgergruppen, die „Schnupperpilgern“ und Gemeinschaftserlebnisse ermöglichen und sich vielleicht sogar in grenzüberschreitenden Sternpilgerwanderungen begegnen könnten.
Das Teilprojekt Ausbildungsprogramm Pilgerwegsbegleiter will dazu beitragen, spirituelle Erfahrungen und Gemeinschaftserleben zu unterstützen und zu begleiten. (Der Anspruch an geistliche Betreuung ist nach der Erfahrung des bayerischen Pilgerbüros schon messbar als Reiseleistung).
Aus der hautnahen Begegnung mit der Natur, ihrer Wahrnehmung als Schöpfung und Ort der Gottesbegegnung kann Wertschätzung und ökologische Verantwortung als gemeinsamer Wert erwachsen. So ist es besonders wichtig, bei der Wegführung auf Naturschönheit zu achten und eindrucksvolle Landschaften spirituell zu erschließen.
Für die drei Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam gilt die gemeinsame Überzeugung, dass alle Menschen als Geschöpfe Gottes eine wahre Gleichheit vor Gott und damit eine unantastbare Würde besitzen. Alle sind in Bezug auf den Schöpfergott untereinander Geschwister.
Die entsprechenden Grundwerte der Gleichheit aufgrund des gemeinsamen Menschseins, “Gemeinschaftsbewusstsein“, “Ehrfurcht vor dem Mitmenschen“ und folglich auch „Toleranz“ und „Freiheit“, auf die nach den Worten des Europarates die europäische Gesellschaft gebaut werden soll, sind auf dem Pilgerweg nicht nur Postulate, sondern werden ganzheitlich erfahrbar. Pilgern trägt dazu bei, das persönliche und gesellschaftliche Bewusstsein und Handeln zu prägen.
Möge also die Hoffnung, die der Europarat in den Jakobsweg setzt, sich erfüllen. Möge auch uns antreiben, was die Pilger im Laufe der Geschichte „im gleichen Sinn zusammenführte -über alle Verschiedenheiten und nationalen Interessen hinweg- …, um so eine Gesellschaft zu bauen, die gegründet ist auf Toleranz, Ehrfurcht vor dem Mitmenschen, auf Freiheit und Gemeinschaftsbewusstsein“.
Zitierte Literatur:
Deklaration des Europarates in: Europarat: FUTURE für our p AST Nr. 32, Straßburg 1988, S.4.
Bottineau Yves, Der Weg der Jakobspilger. Kunst und Kultur der Wallfahrt nach Santiago de Compostela. Aus dem Französ. Lübbe Vlg., 1987.
Brüning Alfons,“ Von heiligen Orten“ und“ Heimatlosigkeit auf Zeit“. Ost -West. Europ. Perspektiven. Die Zeitschrift für Mittel- und Osteuropa, 9/2008, H.1.
Drouve Andreas, Geheimnis und Mythos Jakobsweg. Historische Personen, wundersame Legenden und mysteriöse Geschichten, Marix Vlg., Wiesbaden 2008.
Ganz-Blättle Ursula, Andacht und Abenteuer. Berichte europ. Jerusalem –und Santiagopilger, Jakobusstudien 4, Tübingen 1990.
Hauf Monika, Der Jakobsweg. Das Mysterium der 1000jährigen Pilgerroute nach Santiago de Compostela, Langen Müller Vlg., 2002.
Löw Alfred, Unterwegs nach Santiago. Selbstfindung u. Wandlung auf dem Jakobsweg. Butzon&Bercker 1998.
Rosenberger Michael, Wege, die bewegen. Eine kleine Theologie der Wallfahrt. Echter Vlg.Würzburg,2005.
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